Wussten Sie, dass Schleimpilze intelligent genug sind, um aus einem Labyrinth herauszufinden? Dazu reicht es immerhin – der Mensch ist dem Schleimpilz dank seines Encephalons allerdings weit überlegen: Die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des Gehirns sichert dem Homo Sapiens das Überleben.
Verglichen mit anderen Tieren wird der Homo Sapiens als ein nicht überlebensfähiges menschliches Wesen geboren, das vollständig auf seine Eltern angewiesen ist. Wenn ein Pferd entbindet, kann sein Fohlen innerhalb weniger Stunden laufen. Baby-Meeresschildkröten bleiben für einige Tage in ihren Nestern, bevor sie zum Meer eilen und mehrere tagelange Schwimmphasen durchlaufen. In reichen Ländern müssen neugeborene Menschen jahrelang gefüttert, getragen und bewacht werden, bevor die meisten von ihnen im Alter von etwa 20 Jahren ihre Elternhäuser verlassen. Bezogen auf eine durchschnittliche Lebenserwartung von 80 Jahren benötigt der Homo Sapiens 25% seiner gesamten Lebensdauer, um die Grundlagen für das selbständige Überleben zu erlernen. Ein Pferd lebt 25 bis 30 Jahre, die Lebensspanne von Meeresschildkröten variiert je nach Art stark, zwischen 10 und 80 Jahren. Im Vergleich mit Beiden scheint der Mensch einen deutlich höheren Anteil an „Überlebens-Grundausbildung“ zu benötigen.
Nehmen wir einmal an, ein Grund für diese umfassendere Vorbereitung auf das Leben liegtin der signifikant höheren Komplexität der Umwelt, mit der der Homo Sapiens konfrontiert ist, verglichen beispielsweise der einer Meeresschildkröte. Dies ist übrigens eine Annahme, die durchaus falsch sein kann: wir wissen, dass Meeresschildkröten eine viel geringere Gehirnkapazität haben als Menschen, und aufgrund eines möglicherweise durchaus vergleichbaren Gehirn-Umwelt-Verhältnisses könne die Panzertiere ihre Umwelt ähnlich komplex wahrnehmen wie wir.
Wenn wir die lebenslange Lernkurve eines Menschen betrachten, sehen wir drei langePhasen der Ausbildung unseres Gehirns: erstens die Phase des Säuglingsalters und der Kindheit, zuständig für die kortikalen Regionen unseres Gehirns, die dem Sehen und anderen Sinnen gewidmet sind. Die nächste kritische Phase beinhaltet die Aneignung von Sprache und höherer Kognitionsfähigkeiten. Die letzte Phase ermöglicht den Erwerb komplexer Fähigkeiten. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts glaubten die meisten Neurowissenschaftler an eine starre Struktur und abnehmende Leistungsfähigkeit des Gehirns im Laufe eines Menschenlebens. Kurz gesagt: man ging davon aus dass Menschen das während der Kindheit und der Adoleszenz Gelernte im Erwachsenenalter nutzen könnten, um schließlich kontinuierlich nachzulassen m schließlich auf ihre alten Tage zu infantiler Fähigkeiten zurückzukehren.
Die Aussage, das Gehirn könne sich nur in Kindheit und Jugend weiterentwickeln, hat sich als falsch erwiesen.
Dank neuester neurowissenschaftlicher Forschung wissen wir heute, dass unser Gehirn plastisch ist, d.h. es besitzt die Fähigkeit, sich während unseres gesamten Erwachsenenlebens kontinuierlich zu verändern. Hirnaktivitäten, die mit bestimmten Funktionen verbunden sind, können in verschiedene Hirnareale verlagert werden, der Anteil der sogenannten grauen Substanz, eines Hauptbestandteils unseres zentralen Nervensystems, kann sich verändern, und Synapsen, welche Neuronen in die Lage versetzen, elektrische und chemische Signale zu übertragen, können sich mit der Zeit verstärken oder abschwächen. Unser Gehirn optimiert kontinuierlich seine neuronalen Netzwerke – während der sog. Phylogenese, der Ontogenese und des physiologischen Lernens. Aus diesem Grund haben taube Menschen im Allgemeinen ein sehr gutes Sehvermögen oder blinde Menschen können “das Gras wachsen hören”. Hirnzellen, die bei einem Unfall final beschädigt wurden, erholen sich danach möglicherweise nicht mehr, sondern überlassen ihre Funktion anderen, benachbarten Zellen. Aber auch diese Aussage ist mit Vorsicht zu genießen, da man auch das Nachwachsen von als abgestorben eingestuften Zellen beobachtet hat.
Unser Gehirn ist komplex; es besteht aus etwa 86 Milliarden Neuronen, die etwa 86 Billionen Verbindungen herstellen. Das Gehirn wird oft mit einem anderen komplexen System verglichen, das eine enorme Leistungsfähigkeit zur Problemlösung besitzt – dem Computer. Sowohl das Gehirn als auch der Computer enthalten eine große Anzahl von elementaren Einheiten, Neuronen bzw. Transistoren, die Informationen verarbeiten, welche durch elektrische Signale übermittelt werden. Auf den ersten Blick ähneln sich die Architekturen des Gehirns und des Computers, die aus weitgehend getrennten Schaltkreisen für Eingabe, Ausgabe, Verarbeitung und Speicher bestehen. Gehirne und Computer scheinen ihre Fähigkeiten jedoch in ganz unterschiedlichen Bereichen auszuspielen: Während Computer menschliche Champions in den meisten linearen Berechnungen, im Auswendiglernen und in komplexen Spielen, wie z.B. Schach, besiegen, triumphiert der Mensch über den Computer bei vielen Aufgaben in der realen Welt, von ganz einfachen, wie z.B. dem Trinken einer Tasse Tee, bis hin zu komplexen, wie dem Finden eines Freundes in einer Menschenmenge.
In seinem Buch “The Computer and the Brain” verglich der Mathematiker, Physiker und Informatiker John von Neumann den Computer mit dem menschlichen Gehirn. Im Allgemeinen hat der Computer gegenüber dem Gehirn enorme Vorteile bei der Geschwindigkeit und Präzision elementarer Operationen. Die neuronalen Übertragungen des Gehirns laufen mit einem Bruchteil der Geschwindigkeit heutiger Computerprozessoren ab – Neuronen feuern mit weniger als 1.000 Spikes pro Sekunde, während Computer leicht viele Milliarden Operationen pro Sekunde übersteigen. Und aufgrund biologischen Rauschens arbeitet das Gehirn zu einem millionenfachen Bruchteil der Betriebspräzision einesComputers. Da ein Computer Zahlen entsprechend der Bits darstellt, die dieser Zahl zugeordnet sind, hat eine Zahl mit 32 Bits eine Genauigkeit von 1 zu 4,2 Milliarden. Ein menschliches Gehirn erreicht im Vergleich dazu eine Genauigkeit von 1 zu 100. Diese Zahlen sprechen eindeutig gegen das menschliche Gehirn. Und dennpch sind wir Menschen dem Computer in vielen lebenswichtigen Berechnungen überlegen.
Die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des Gehirns sichert dem Homo Sapiens das Überleben
Aufgrund der allgemeinen Überlegenheit des Gehirns in Bezug auf Flexibilität und Verallgemeinerbarkeit sollte sich der Mensch nicht damit zufrieden geben, Computer zu verbessern, sondern vielmehr darüber nachdenken, wie er sich selbst verbessern kann. Alles, was Ingenieure in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, ahmt letztlich das nach, wozu unser Gehirn bereits in der Lage ist. Wie könnte es auch anders sein? Alle Ingenieure benutzen ihre Gehirne, um Computer zu bauen. In Vorbereitung auf einen Paradigmenwechsel, der durch Künstliche Intelligenz ausgelöst wird, indem intelligente Maschinen die Macht übernehmen und ihre überlegene Rechengeschwindigkeit ausnutzen, sollten sich die Menschen an die oben erwähnten inhärenten Eigenschaften ihres Gehirns erinnern: Flexibilität, Generalisierbarkeit und Anpassbarkeit: Neuroplastizität. Im Wissen, dass sich Training positiv auf die Leistungsfähigkeit auswirkt, befassen sich Millionen von Menschen in täglichen Trainingseinheiten mit allen Arten körperlicher Übungen. Was wäre, wenn wir die Sinnhaftigkeit eines mentalen Trainings auf die gleiche Weise verinnerlichenwürden wie des körperlichen Trainings? Was, wenn wir uns an das ungenutzte Potenzial unseres Gehirns erinnerten und wir aufhörten, fahrlässig mit den fantastischen,ungehobenen Potenzialen des Gehirns umzugehen? Was wäre, wenn wir uns nicht nur theoretisch typischer menschlicher mentaler Voreingenommenheiten bewusst würden, sondern aktiv daran arbeiten würden, sie zu bekämpfen, indem wir unser Wissen über mentale Modelle, wie Gedankenexperimente, Denken zweiter Ordnung, probabilistisches bzw. Bayessches Denken oder Occams und Hanlons Rasiermesser nutzten? Diese Modelle sind seit (Hunderten von) Jahren bekannt, aber haben sie ihren Weg in den allgemeinenBildungskanon gefunden? Nein, haben sie nicht. Warum nicht?
Das menschliche Gehirn ist das am stärksten unterschätzte Gut, das wir uns vorstellen können – und es ist der beste Ausgangspunkt für die Lösung vieler Herausforderungen, von einer potenziellen Bedrohung durch intelligente Killerroboter bis hin zur Klimakrise. Unser Gehirn ist das Kernstück der nächsten Evolutionsstufe der Menschheit – der Achtsamen Revolution.
Warum nicht? In Ermangelung erkennenden Geistes.